Leseprobe

[…Maus hatte in jedem Jahr auf der Lichtung hinter ihrem Hügel ein großes Fest gegeben, mit vielen Leckereien und einem gemütlichen Feuer, um das alle herum saßen und erzählten.
Zur Feier des Tages gab es auch ihren von allen heiß geliebten Weihnachtskuchen aus vielen Nüssen, dunklem Kakao und anderen guten Zutaten. Davon backte sie immer extra große Mengen, denn die Freunde nahmen die Reste auch liebend gerne als leckeren Wintervorrat mit nach Hause!
Das Weihnachtskuchenrezept wurde seit Jahrhunderten in ihrer Familie vererbt. Maus hatte von ihrem Opa, als er noch lebte, gelernt, wie man den Kuchen am besten so zubereitete, dass er besonders gut schmeckte und sich über Monate hielt.
Da kam ihr eine Idee! „Ha! Genau! Ich backe aus meinen letzten Vorräten einen von den leckeren und duftenden Weihnachtskuchen!“ dachte sie lächelnd. „Und dann lade ich alle zu einem gemütlichen Tee-und-Kuchen-Klatsch ein! Vielleicht lassen sie sich ja damit besänftigen und kommen wieder zu mir zurück?!“ Sie war gerne bereit, dafür ihr letztes Essen herzugeben!

Sie zog also den dicken Pulli aus, den sie unter der kuscheligen Jacke getragen hatte, und band ihre Küchenschürze um. Dann fachte sie den Ofen an, so dass er schnell rot glühte, stellte alle Schüsseln und Löffel zurecht, die sie für die Zubereitung brauchen würde, und griff nach dem Rezept an der Wand.
Sie griff ins Leere! Da hing nichts! Das gab es doch gar nicht! Das Rezept hing doch immer dort!
„Ist es vielleicht einfach nur runter gefallen?“ dachte Maus und kroch auf allen Vieren auf dem Boden herum, verrückte mit letzter Kraft die Küchenmöbel und suchte schließlich immer hektischer und verzweifelter überall in allen Räumen, aber das Weihnachtskuchenrezept blieb verschwunden! Völlig erschöpft und durcheinander saß sie auf dem Boden und konnte es gar nicht fassen. Es fühlte sich an, als ob ihr jemand das ganze Weihnachten gestohlen hätte.
Ängstliche Gedanken schossen ihr durch den Kopf. „Was ist passiert? Hat jemand das Rezept gestohlen? Wenn ja, wann und warum und wer? Ist es weggeflogen, als ich das Fenster zum Lüften offen hatte und trotz des lauten Sturms, der über die Lichtung tobte, todmüde eingeschlafen war?“
Sie versuchte sich an die genauen Zutaten zu erinnern, aber wusste nur noch die ungefähre Anzahl an Nüssen, und dass sie einen von ihren kleinen blauen Tonkrügen voll an süßer Mandelmilch brauchte…

Dann fiel ihr zum Glück etwas ein: „Manchmal haben meine besten Freunde doch mitgeholfen, die vielen Kuchen für das große Fest zu backen“, dachte sie „Vielleicht können die sich ja an weitere Zutaten und deren Mengen erinnern!“ Beschwingt von diesem Gedanken ging sie ins Bett und beschloss, am nächsten Morgen gleich den Hasen zu besuchen und zu fragen, denn der wohnte gleich bei ihr um die Ecke. In dieser Nacht schlief sie endlich einmal besser.

Als die Sonne durchs Fenster an ihrer Nase kitzelte, wachte sie auf und hatte gleich gute Laune! Sie zog sich an, frühstückte ein paar Beeren und band sich diesmal noch ihren wirklich langen und bunten selbstgestrickten Schal um, damit sie draußen nicht wieder so frieren musste.

Mit den Pfoten tief in die Taschen vergraben, schritt sie durch die bunten Herbstblätter voran. Bei jedem Schritt flogen die in allen Farben leuchtenden Blätter lustig in die Luft, der blaue Himmel blitzte durch die Bäume und die Sonne strahlte mit Maus um die Wette.
Schnell kam sie an Hases Bau an und klopfte entschlossen an seine Tür. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er angeschlurft kam, aber dann hob sich endlich die Tür zu seinem Bau und er blickte sie völlig erstaunt an: „Ach, du bist es MAUS!“ rief er ziemlich laut. Er sah sie irgendwie so an, als wäre sie völlig fehl am Platz und so klang auch seine Stimme! „Ach, das bilde ich mir bestimmt nur ein“, dachte Maus und antwortete: „Hallo Hase, schön dich endlich wieder zu sehen. Kann ich einen Moment reinkommen? Ich mag dich etwas fragen“.
Hases Augen wurden noch größer und entsetzter und er schloss die Tür etwas und versteckte sich halb darunter. „Nee, du, das ist jetzt ganz schlecht, ich habe so viel zu tun… Du weißt ja, es ist bald Winter und da will viel vorbereitet sein, hehe, jaja die Arbeit…“ Maus war irritiert und wusste nicht, was sie antworten sollte! Ging man so mit besten Freunden um, die lange krank gewesen waren, und die man endlich gesund wieder sah?
Und waren da nicht dumpfe Stimmen und hektische Geräusche hinter ihm zu hören? Hatte er Besuch und nur für sie keine Zeit?
„Öhm, na gut, dann gehe ich jetzt erst mal zu Eichhörnchen und komme auf dem Rückweg noch mal zu dir?“ fragte sie vorsichtig. Aber Hase ranzte nur: „Nee, das kannst du vergessen, das wird heute nichts mehr!“ und knallte die Tür vor ihrer Nase ins Schloss.
„Na super, danke!“, dachte Maus und machte sich verletzt und grübelnd auf den Weg zum Eichhörnchen. „Hase ist ja schon immer etwas muffelig und grob in seiner Wortwahl“, dachte sie „Wer weiß, was ihm diesmal wieder über die Leber gelaufen ist!“ Dabei seufzte sie. Irgendwie hatte er aber auch so zerzaust und staubig ausgesehen, alles sehr seltsam. Was wohl dahinter steckte? Maus ging kopfschüttelnd weiter.]